SELBSTÄNDIGE EXISTENZEN UNTER DRUCK (*)
VON GERHARD WINTERBERGER
Der starke Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung und der Selbständigerwerbenden in anderen Berufen beunruhigt weite Kreise unserer Gesellschaft bedeutend weniger als noch vor Jahrzehnten. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen im Umbruch. Viele haben sich daran gewöhnt, um so mehr, als der Wohlstand gleichzeitig gewaltig gestiegen und ein leistungsfähiges Sicherheitsnetz stark ausgebaut worden ist. Und doch sind die Gefahren unverkennbar. Der Rückgang der Selbständigen ist ein schwerwiegendes Problem. JosephAlois Schumpeter hat in diesem Zusammenhang von einem Einbruch der die «Marktwirtschaft schützenden Schichten» gesprochen.
Umschichtung beeinflusst Mentalität und Gesetzgebung
Wir leben in einer andern Welt als Alexander Hamilton (1757-1804), welcher in den berühmten «Federalist Papers» die verfassungsrechtliche Begründung des amerikanischen Bundesstaates darlegte. Hamilton hatte bei den Ausführungen über die Finanz- und Wirtschaftspolitik die damalige amerikanische Gesellschaft vor Augen, die fast ausschliesslich aus Grundbesitzern, Kaufleuten und Angehörigen geistiger Berufe bestand. Die Vereinigten Staaten wurden inzwischen eineAngestelltendemokratie. Der soziologische und ökonomische Umschichtungsprozess schaffteauch in den andern Industriestaaten eine Angestelltendemokratie mit der ihr eigenen Inflationsmentalität und ihrem Sekuritäts- und Konsumbedürfnis. Das soziale und politische Klima ist entsprechend geprägt. Die Gesetzgebung wird in die Richtung einer Schwächung der Selbstverantwortlichkeit und Selbstbehauptung und einer Benachteiligung des initiativen Handelns beeinflusst.
Es ist offensichtlich, dass die Ideale und Postulate der Freiheit einer Gesellschaft entstammen, in der ein sehr grosser Teil der Bürger, vor allem jener, welche auf die öffentliche Meinung Einfluss hatten, in ihrer beruflichen Tätigkeit selbständig und unabhängig waren. Die bürokratische Kontrolle von Leben und Wirtschaft, die Umverteilung der Einkommen durch progressive Besteuerung haben sichakzentuiert und die Tendenzen zu Interventionismus und Bürokratisierung mancherorts verstärkt.
Bedeutende Abhängigkeit
Dabei ist zu beachten, dass der unselbständig Erwerbende, der Angestellte, Arbeiter und Beamte, stets von einem Arbeitgeber abhängig sein wird. Er ist damit den Befehlen von Menschen unterworfen, die ihm Arbeitszeit, Arbeitstempo und -rhythmus vorschreiben. Diese Abhängigkeit mag bei Voll und Überbeschäftigung weniger empfunden werden als in Depressionszeiten.Heute ist sie aber ausgesprochen da und lastet als schwerer Druck auf Unbeschäftigten und Beschäftigten.
Aufgaben des Staates
Meines Erachtens hat die Politik für ausgezeichnete Rahmenbedingungen für die Gesamtwirtschaft – nicht nur für einzelne Teile – besorgt zu sein. Davon kann auch der Selbständige profitieren. Die Gründung und Führung eines eigenen Geschäfts sollte wieder attraktiver gestaltet werden. Nicht durch strukturerhaltende Massnahmen des Staates, sondern durch eigentumsfördernde Vorkehren (hier ist vor allem die Steuerpolitik angesprochen), durch vermehrten Wettbewerb, durch eine stabile Währung und gezügelte Finanzen und eine konsequente, antimonopolistisch wirkende Aussenwirtschaftspolitik. Notwendig ist vor allem eine bessere Vertrautheit breitester Kreisemit wirtschaftlichen und finanziellen Fragen, wozu auch Sparen und Investieren und die bestmögliche Anlage eines Vermögens und Einkommensüberschusses gehören, und seien diese noch so bescheiden.
Auf diese Weise wird wirklichkeitsnahes marktwirtschaftliches Denken auch bei Unselbständigen gefördert, was sich wirtschafts- und gesellschaftspolitisch auf die Dauer ungemein positiv auswirken wird.
ANMERKUNG
(*) Gerhard Winterberger: «Selbständige Existenzen unter Druck» inAlice Gertrud und Hans Rudolf Bosch-Gwalter (Hgb): Zeitwende, Wende-zeit, 50. Kranich-Druck, Kranich-Verlag, Zollikon 1995. Erstmals erschienen inder «Zürichsee-Zeitung» vom 2. Oktober 1993.
GEDANKEN ÜBER DEMOKRATIE, MARKTWIRTSCHAFT UND POLITIK
RÜCKTRITTSREDE ALS GESCHÄFTSFÜHRENDES PRÄSIDIALMITGLIED DES VORORTS AN DER DELEGIERTENVERSAMMLUNG DES SCHWEIZERISCHEN HANDELS- UND INDUSTRIE-VEREINS AM 18. SEPTEMBER 1987 IN ZÜRICH
VON DR. GERHARD WINTERBERGER
Bei meinem Ausscheiden aus der aktiven Leitung des Vororts erlaube ich mir, noch einige Gedanken zu äussern:
Nach wie vor ist es eine verpflichtende Aufgabe im Schweizerischen Handels- und Industrie-Verein, vor allem in der Leitung des Vororts, sich für die rechtsstaatliche Demokratie und die Marktwirtschaft konsequent einzusetzen und sich in der Ordnungspolitik auf sicherem Pfade zu bewegen, staatliche Massnahmen nach ihrer System- und Zielkonformität sowie nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Proportionalität zu prüfen, die Freiheitsräume für die Wirtschaft, die Unternehmerschaft und für jeden Bürger zu sichern und sich für die Stabilität der Währung einzusetzen sowie sich grundsätzlich gegen protektionistische Massnahmen zu wenden.
«Der Teufelskreis des Interventionismus»
Unablässig müssen wir günstige Rahmenbedingungen für die gesamte Wirtschaft zu erreichen suchen und damit das Gesamtinteresse der Wirtschaft im Auge behalten. Mit allzu punktuellen Massnahmen gelangt man nur in eine wirtschaftspolitische Wurstelei, die uns in den ausweglosen Teufelskreis des Interventionismus führen müsste.
In unserer heutigen schnelllebigen Zeit könnte uns ein Ideologie- oder Theoriedefizit drohen. Dies wäre ausserordentlich gefährlich. Wir müssen deshalb nach wie vor neben der unerlässlichen täglichen praktischen Arbeit an konkreten Problemen auch besonderen Wert auf die Grundlagenarbeit und die Publizistik legen. Der Vorort hat sich ja seit Anfang der 1970erjahre nach aussen stark geöffnet und mit Erfolg eine rege Öffentlichkeitsarbeit betrieben. (..)
Probleme bereiten wird die Personalisierung der Politik durch die Medien. Sachliche Lösungen reifen nach meiner Erfahrung in stiller, unentwegter Arbeit und weniger im Brennpunkt der Öffentlichkeit und unter dem Gesichtspunkt der «Medienwirksamkeit». Die seriöse Basisinformation seitens der Wirtschaft muss in den Medien zweifellos verstärkt werden. Besonders wichtig scheint mir, dass geistige Strömungen und politische Ideen rechtzeitig analysiert, in ihrem positiven oder negativen Gehalt erfasst und wenn nötig kanalisiert und allenfalls intellektuell erfolgreich gefördert oder widerlegt werden.
Kein Hadern mit dem Souverän
Nach einer politischen Niederlage darf man nie resignieren und seine Unzufriedenheit kundtun gegenüber der schweizerischen Referendumsdemokratie und ihren Volks- und Ständeentscheiden. Mit dem Souverän darf nicht gehadert werden. Man muss sich vielmehr immer wieder bemühen, die Geschicke in Staat und Wirtschaft mit Selbstvertrauen strikte im Rahmen der Rechtsordnung mitbestimmen und mitbeeinflussen zu versuchen. Dabei sollte die alte politische Erfahrung niemals vergessen werden, dass ein System nie allein durch die Kraft des innern und äussern Feindes FÄLLT, sondern vornehmlich durch die eigene Schwäche, nämlich dann, wenn geistige Werte und Grundsätze, auf denen eine freiheitliche Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsordnung beruht, nicht mehr als Verteidigungswürdig empfunden werden und der Bürgersinn nicht mehr gefragt ist.
Nach meinem Dafürhalten kann der Vorort seine Position in Zukunft sichern durch die Qualität seiner Arbeit, das heisst durch einen vorzüglichen, motivierten und kreativen Mitarbeiterstab, durch Glaubwürdigkeit und den Willen zum Engagement seitens der leitenden Persönlichkeiten, durch persönliche Integrität und den Mut zur Stellungnahme. Man muss auch in der Lage sein, eine notwendige Entwicklung einzuleiten und allfällige Entscheide in der Organisation nötigenfalls zu präjudizieren. Dabei sollten die Meinungen nicht verzettelt werden. Dies hat mit einem sogenannten Demokratiedefizit nichts, hingegen mit Führung viel zu tun.
Dabei ist der Vorort gezwungen, unter divergierenden Interessen zu arbitrieren, wo dies notwendig und wünschbar ist. Man kann nicht alles dem Staat überlassen. Dabei muss man sich immer darüber im klaren sein, dass in der Politik die wirtschaftlichen Anreize für die Übernahme und Führung von Unternehmungen nicht verschüttet, sondern unbedingt verbessert werden müssen, denn die Marktwirtschaft steht und fällt mit dem verantwortungsbewussten und risikofreudigen Unternehmer und einer ihm auf die Dauer günstig gesinnten öffentlichen Meinung.
«Der schweizerische Staatsbürger in uns»
Nun dürfen wir als Wirtschafter auch den schweizerischen Staatsbürger in uns nicht vergessen. In diesem Sinne betrachtet, sind die Wirtschaft und die Marktwirtschaft allein nicht genug. Es braucht dazu auch den politisch verantwortungsbewusst handelnden Bürger. Dies wird sich einmal mehr zeigen in der Integrationspolitik, in der Regelung des Verhältnisses der Schweiz zur europäischen Union (EU). Eine rein wirtschaftliche Stellungnahme zu de3n Integrationsbestrebungen ist auf die Dauer nicht trennbar von den staatlichen und staatspolitischen Grundsätzen. In allen unseren Vernehmlassungen zu den verschiedensten Problemen haben wir neben wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Überlegungen stets auch solche rechtliche und staatspolitische Art anzustellen, wie dies immer der Fall war. Die Auswirkung einer nähern Bindung an die EU auf die direkte Demokratie, das interne Rechtsetzungsverfahren und das unbedingte Erfordernis der sogenannten «TREATY MAKING POWER» sowie die Neutralitätspolitik müssen näher abgeklärt und können nicht ausgeklammert werden. Die politische und wirtschaftliche Stabilität, die auch auf einer geschickten Durchsetzung des Prinzips der «Checks and Balances» und der Rücksichtnahme auf die sprachlichen und kulturellen Minderheiten beruht, sollte keine gefährliche Aufweichung mit der Folge einer Schwächung des helvetischen Staatswillen erfahren. Grunderfordernis, dass die Schweiz von der EU als Gesprächspartner akzeptiert wird, ist und bleibt unsere wirtschaftliche Stärke und internationale Konkurrenzfähigkeit. Wirtschaftliche und politische Schwäche würden unsere Verhandlungsposition wesentlich beeinträchtigen und uns zum blossen Objekt der Politik reduzieren.
Um die auf uns zukommenden aussenwirtschaftlichen Probleme meistern zu können, ist also darauf zu achten, dass sich unsere Wirtschaft inskünftig in guter Verfassung befindet. Der Wirtschaft dürfen deshalb keine zusätzlichen, unzumutbaren Lasten auferlegt werden. Je stärker unsere Wettbewerbskraft ist, desto besser wird es uns gelingen, auch in Zukunft das unerlässliche Mindestmass an Unabhängigkeit zu wahren, denn die Unabhängigkeit von Morgen ist eine Resultante unserer internationalen Konkurrenzfähigkeit, wie Bundesrat Hans Schaffner bereits Anfang der 1960erjahre mit Recht immer wieder betont hat. Wirtschaftspolitisch wird es vor allem darum gehen, vis-à-vis der EU den drohenden diskriminierungsschaden abzuwehren oder in möglichst engen Grenzen zu halten.
Wirtschaftspolitik in internationalen Zusammenhängen denken
Wirtschaftspolitisch habe ich immer in internationalen Zusammenhängen gedacht, politisch aber oft National. Auch wenn dies heute manchen nicht zeitgemäss erscheinen mag, so fühle ich mich immer noch als Schweizer Patriot. So werde ich dem neben wirtschaftlichen Problemen inskünftig vermehrt wieder denjenigen unserer helvetischen politischen Existenz in einer sich schnell verändernden Umwelt mit weltweiter Interdependenz nachgehen, insbesondere der Frage: «Sind wir noch Eidgenossenschaft?»
VOM GEISTIGEN HABITUS UNSERER BERGBAUERN
VON DR. GERHARD WINTERBERGER (1962) (*)
In gewissen städtischen und halbstädtischen Kreisen herrscht die Meinung vor, dass es sich bei den Bergbauern um schwerfällige Leute handle. «Ambühl war ein linkischer und unbeholfener Mensch, ein Bergler eben, dem das Reden Mühe macht», heisst es in einer schweizerischen Erzählung. Diese Klischeevorstellung hat man vom Ausland übernommen. Sie ist sozusagen von draussen als Ausdruck der geistigen Überfremdung hereingerutscht und macht in voreingenommenen schweizerischen Köpfen die Runde. Dabei ist festzuhalten, dass in den uns umgebenden Ländern, namentlich aber in Deutschland und Frankreich, die Bauern sozial missachtet waren. Höfische und bürgerliche Kreise im Ausland sahen mit Verachtung auf die Bauernsame ihres Landes herab; der Bauer galt als Tölpel und wurde in Liedern, Fasnachtspielen und Witzblättern zu einer dummschlauen Figur gestempelt. Diese Geringschätzung der Volkskultur und des Bauerntums, der eine überspitzte aristokratische Ausprägung des Bildungs-, des Kultur- und Elitebegriffs parallel ging, wurde dann auch bei uns von zahlreichen städtischen und intellektuellen Kreisen übernommen.
Redegewandt und beweglich
Die Klischeevorstellung vom schwerfälligen, unbeholfenen, linkischen und wortkargen Bergler ist jedoch grundfalsch. Wie ADOLF GUGGENBÜHL mit Recht in seinem wertvollen Buch «KEIN EINFACH VOLK DER HIRTEN» betont, sind die Vertreter der Hirtenkultur sehr redegewandt, phantasievoll und alles andere als bedächtig. In den Tälern des Berner Oberlandes, des Oberwallis, in Bünden, in der Urschweiz und im Appenzellerland findet man einen äusserst aufgeweckten und schlagfertigen Menschentyp, der das importierte «Klischee» vom schwerfälligen Bergbauern Lügen straft. Auch gewandte politische Debatter aus der Stadt könnten an einer Versammlung der Bäuerten und der politischen Gemeinden im Alpengebiet ihre blauen Wunder erleben, und mancher Referent hat dies schon an kontradiktorischen Veranstaltungen erfahren müssen. Die ausserordentliche geistige Beweglichkeit, die Sicherheit im Auftreten und da und dort sogar spekulative Elemente im Volkscharakter zeigen sich nicht nur in der Viehzucht und auf den Viehmärkten, sie wirken sich auch in der Hotellerie und im Fremdenverkehr aus. Söhne und Töchter von Bergbauern sind Hotelbesitzer oder leitende Angestellte in Handel und Verkehr geworden. Wenn man sich überlegt, wie sich die Engadiner, die Walser aus Graubünden und Bosco-Gurin und die Saaner, die Glarner und Appenzeller in vielen Berufen im Flachland durchgesetzt haben, wie viele Safier hervorragende Posten bekleiden, wie mancher heruntergestiegene «Oberländer» im wirtschaftlichen und politischen Leben des «Unterlandes» eine Rolle spielt, wer sich zudem des Umstandes bewusst ist, dass manche unserer gewandten Wirtschafts- und Handelspolitiker einen Namen tragen, der im Alpengebiet, im Zürcher Oberland oder in den Bergen des Emmentals und des Oberaargaus entstanden ist, deren direkte Vorfahren also entweder Hirten oder Hügellandbauern gewesen sind, der staunt nur über die Unkenntnis gewisser städtischer Kreise, die den erwähnten Klischeevorstellungen zum Opfer gefallen sind. Es besteht ein deutlicher Gegensatz zwischen Berg- oder Hirtenbauern und Flachlandbauern. Im Mittelland gibt es tatsächlich Gebiete, wo die Bauern wenig reden und geradezu wortkarg sind. Jahrhundertelang waren die Hirten mancher Alpentäler politisch sehr aktiv, während die meisten Flachlandbauern bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft, ja sogar zum Teil bis zur Gründung des Bundesstaates im Untertanenverhältnis standen. Die politische und soziale Stellung der Bergbauern war demnach bedeutend höher als die jener grossen Teile der schweizerischen Bevölkerung, die im Mittelland und in manchen Alpentälern lange Zeit unter der Herrschaft irgendeines Feudalherren, Klosters oder städtischen Patriziates standen.
Von der Bäuerten zur Politik
Es kommt nicht von ungefähr, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft im Gebiet des alpinen Hirtenbauerntums entstanden ist. Auch im weitern Alpengebiet, in den französischen Alpen und im Tirol, haben sich die Bauern politisch zusammengeschlossen. Im Gegensatz zur urschweizerischen Eidgenossenschaft war diesen Zusammenschlüssen jedoch auf die Dauer kein Erfolg beschieden. Eine «Vorschule des politischen Zusammenschlusses im Kampfe gegen die Feudalgewalten» waren die Bäuerten und Markgenossenschaften. Die Bäuerten, die sich im Haslital und in der Innerschweiz bereits im 11. und 12. Jahrhundert herausgebildet haben, sind Körperschaften, welche sich im Gemeinbesitz von Rechten und Pflichten an Allmenden, Alpen und Waldungen befinden. Die gemeinsame Nutzung der Alpen und Allmenden, die genossenschaftliche Selbstverwaltung förderte und stärkte den politischen und demokratischen Sinn. Die Bäuerten und Markgenossenschaften waren denn auch die Wurzeln politischer Landsgemeinden. Bei den Alpenbewohnern kommen der politische Weitblick und die Beweglichkeit hinzu, die sie als Hüter der Pässe und als Hirten, Säumer und Bauern beim Besuch der Märkte diesseits und jenseits der Alpen erworben haben. «Ihr Blick muss» – wie sich RICHARD WEISS in seinem grundlegenden Werk «VOLKSKUNDE DER SCHWEIZ» zutreffend ausdrückt – «über den eigenen Wirtschaftsraum hinausreichen.»
Stolz wie Patrizier – ohne Fürsprecher
Die Bewohner der betreffenden Alpengebiete sind sich der ehemals bevorzugten Stellung ihrer Vorfahren heute noch bewusst. Der Unabhängigkeits- und Eigenwille war und ist in den Bergbauern dieser Talschaften und ihren Nachkommen besonders stark entwickelt. Sie sind stolz auf ihre Herkunft; der Bürgerrechts- und Herkunftsstolz der Engadiner, Davoser, Safier, Liviner, Schwyzer, Urner, Gomser, Saaner, Oberhasler, Truber, Appenzeller und Wyniger usw. ist mindestens so ausgeprägt wie derjenige der ältesten stadtbernischen Patrizierfamilien! In manchen von diesen Gebieten ist das0 Selbstbewusstsein so stark, dass bei Streitigkeiten die Bauern ihre Angelegenheiten vor Gericht selbst vertreten und den aus der Stadt stammenden Anwalt der Gegenpartei nicht im geringsten scheuen. Ungezählte bernische Fürsprecher mussten die Rückreise das Aaretal hinunter mit abgesägten Hosen antreten. Dank der historischen und politischen Tradition, den Erfahrungen in den Bäuerten, in den Gemeinden und im Kanton hat sich bei vielen Bergbauern ein Sensorium für politische Fragen, ein ausgeprägter Sinn für das Mass und für Imponderabilien herausgebildet, der das politische Urteil manches Akademikers und Grosskaufmanns bei weitem übertrifft. Die meisten Hirtenbauern sind starke Föderalisten, setzen sich ein für klare, überschaubare Verhältnisse, misstrauen allen Machtzusammenballungen und schauen lieber zu den hohen Bergen auf, die ihre Heimat umranken, als zu grossen mächtigen Menschen.
Einfluss auf die übrige Schweiz
Die Geschichte in der Schweiz ist jahrhundertelang einerseits durch das Zusammenwirken und anderseits durch den Gegensatz zwischen alpiner und städtischer Politik bestimmt worden. Weder die Bergbauerngemeinden allein noch die Städte allein hätten die Eidgenossenschaft durch die Fährnisse der Zeit erhalten können. Nur der bündischen und föderativen Zusammenfassung beider Gruppen ist es zu verdanken, dass die Schweiz Bestand hatte. Der Umstand, dass die Schweiz gebirgig und hügelig ist, hat bewirkt, das die Ordnung des Zusammenlebens sich bei uns im Gegensatz zum Tiefland entwickelt
hat. Die einzelnen Täler und Gemeinden bilden die natürlichen Einheiten, den vom Einzelnen noch klar überschaubaren Raum. Berge und Hügel schliessen die Bewohner nach innen zusammen. Die Kammern der Alpen und die Höhenzüge des Mittellandes mit ihren Mulden, die feste Umgrenzung, die Überblickbarkeit der Verhältnisse ergeben eine enge und dauerhafte Bindung an die Heimat. Auch im schweizerischen Mittelland und in den andern nichtalpinen Gebieten der Schweiz drang im allgemeinen die Lebensauffassung der Alpenbewohner gegenüber der Grossraumpolitik des Tieflandes durch. Sehr schön schreibt darüber HERMANN WEILENMANN in seinem Werk «PAX HELVETICA ODER DIE DEMOKRATIE DER KLEINEN GRUPPEN»: «Es ist immer das entscheidende Problem der Schweizergeschichte gewesen und ist es noch heute, ob sich die in den Mulden des Mittellandes, des Jura und der Südtäler lebenden Leute für die Herrlichkeit des Grossstaates oder für die Schweiz, das heisst für die Selbständigkeit ihrer kleinen Heimat, entschieden. Stets nahmen sie die ihnen von beiden Seiten gebotenen Gaben entgegen. Aus dem vor ihnen ausgebreiteten Tiefland empfingen sie die grossen0 kulturellen Anregungen, die Rohstoffe für ihre Industrie, die Handelsgüter. Durch ihre Sprache bleibt die deutsche Schweiz mit Deutschland, die französische Schweiz mit Frankreich, die italienische mit Italien verbunden. Aber wenn es um die Erhaltung der Heimat und den Ausbau der eigenen Demokratie geht, finden alle Teilgebiete ihren sichern Rückhalt in der Tradition der Alpentäler.»
Gewichtsverschiebung durch die Technik
Auch heute noch ist der Gegensatz zwischen Bergbauern und Mittellandbauern wirksam. Der Ackerbauer ist bodenständig und selbstgenügsam, während die Hirten oft von einer nomadenhaften Unruhe erfasst sind, die sich nicht zuletzt auch in spontanen Kraftäusserungen, in angriffigem Witz und Spott – vor allem Fremden gegenüber – ausdrückt. In der neuern und neuesten Entwicklung der Eidgenossenschaft hat sich die politische Gewichtsverteilung in geradezu tragischer Weise zuungunsten der Bergbevölkerung verschoben. Die starke Bevölkerungsvermehrung im Mittelland, die Industrialisierung haben die Gewichte deutlich zugunsten der Städte und Industriezentren verlagert. Die hochorganisierte Industriegesellschaft, die in soziologischer Hinsicht von Vermassungstendenzen begleitet ist, macht es den Bergbauern und ihren Kindern viel schwerer als früher, sich in geistiger Hinsicht durchzusetzen und ihre Eigenart zu bewahren. Infolge der Anwendungsmöglichkeit der Technik und der neuen landwirtschaftlichen Arbeitsmethoden im Mittelland ist die Anpassung an die moderne technische Welt dem Flachlandbauern leichter gefallen als vielen seiner Standesgenossen im Berggebiet.
LEGITIME INTERESSENPOLITIK
VON GERHARD WINTERBERGER (*)
Interessenvertretung scheint heute weitherum zunehmend anstössig geworden zu sein. Man spricht von Filz zwischen Wirtschaft und Politik, von einer das Gemeinwohl und das Staatswohl gefährdenden Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Verwaltungsräte werden verdächtigt – besonders politische Mandatsträger – die Interessen «ihrer» Firma oder Branche auch politisch in unsauberer Weise bei den Behörden aller drei Stufen durchzusetzen. Dabei wird der Fall Kopp nicht etwa nur von Systemveränderern und von sog. Linken, sondern auch von bürgerlichen und marktwirtschaftlich orientierten Leuten als Schulbeispiel von Verfilzung herangezogen; in gleicher Weise wird die Freisinnig-Demokratische Partei und werden insbesondere die Zürcher Freisinnigen als anfällig für diesen Filz bezeichnet oder sogar direkt dafür verantwortlich gemacht.
Hier handelt es sich um eine grobe Verzerrung der Realitäten. Zum einen ist die FDP eine Volkspartei und nicht eine elitäre Gruppe, welche die Einfluss- und Gewinnmaximierung zuoberst auf die Fahne geschrieben hat. Dabei gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem Zürcher, dem Solothurner, dem St. Galler, dem Berner und dem Waadtländer Freisinn. Zum andern sind die Möglichkeiten von Politikern sehr begrenzt, ja überhaupt kaum vorhanden, eigentliche Firmenziele auf eidgenössischem Boden durchzusetzen – unsaubere und undurchsichtige überhaupt nicht. Man übersieht auch den Umstand, dass Bundesrat und Verwaltung eine starke Stellung innehaben und sich im Allgemeinen durch ein hohes Mass an Unabhängigkeit und Integrität auszeichnen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Anders können die Verhältnisse da und dort auf kommunaler und kantonaler Ebene liegen, wo berufliche Tätigkeit und Politik nahe beieinander liegen oder ineinander übergreifen und beispielsweise bei Arbeitsvergebungen oder im Falle von Ämterpatronage zum Spielen kommen. Je nach Art, Region und Machtstellung können davon alle in der Exekutive vertretenen Parteien davon betroffen sein.
Vordringen der ganzheitlichen Betrachtungsweise
Es dürfte nicht bestritten werden, dass entsprechend persönlichem, politischem und wirtschaftlichem Standort, kulturellem und regionalem Umfeld die Akzente in der schweizerischen Staats- und Wirtschaftspolitik unterschiedlich beurteilt und gesetzt werden, je nachdem, ob ein Unternehmer, Angestellter, Gewerkschafter ist, ob er einer bürgerlichen Partei oder einer Linksgruppierung angehört. Das war seit jeher die Regel. Früher lagen die Standpunkte auch unter den Unternehmern weiter auseinander, indem Bauern, Gewerbetreibende, Industrielle, Leiter von Handels- und Dienstleistungsbetrieben je nach Herkommen, Standort, Betriebsgrösse, Branche und Absatzgebieten sehr unterschiedliche Gesichtspunkte ins Spiel brachten.
Seit längerer Zeit ist man auf der Ebene der Spitzenverbände immer mehr zur ganzheitlichen Betrachtungsweise geschritten. Man hat eingesehen, dass es der Wirtschaft insgesamt am besten geht, wenn allgemeine Grundsätze in der Wirtschaftspolitik zum Tragen kommen und wenn dem Erfordernis günstiger wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen Rechnung getragen wird. Die Wissenschaft ist in Bezug auf diese ganzheitliche Betrachtungsweise vorangegangen. Praktisch aber hat dazu entscheidend beigetragen der Übergang von der bilateralen Handels- zur multilateralen Aussenwirtschaftspolitik bzw. die Liberalisierung der Aussenwirtschaftspolitik sowie die seit dem Übergang zum Floating verstärkte Position einer unabhängigen Nationalbank. Damit wurde der Spielraum für punktuelle Massnahmen zugunsten einzelner Branchen oder Betriebe – abgesehen vom Sonderfall der Landwirtschaft – ganz massiv eingeengt oder sogar verunmöglicht. Unter diesen Umständen könnte auch ein politischer Mandatsträger als Verwaltungsrat einiger Firmen in Bern oder beim Vorort kaum einen Vorteil herausholen, womit der Vorwurf der Verfilzung stark relativiert wird oder in sich zusammenfällt. Im Falle der Landwirtschaft, die man einem interventionistischen System unterstellt hat, spielt die Durchsetzung von Sonderinteressen durch die nach wie vor starke Bauernlobby eine grosse Rolle.
Es sei in diesem Zusammenhang aber nicht verschwiegen, dass die politische Durchsetzung dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise und die Ablehnung punktueller Massnahmen immer wieder auf Widerstand stossen. Durchsetzung und Ablehnung hängen ab von der Standfestigkeit der Spitzenverbände gegenüber Gruppeninteressen ihrer Mitglieder, insbesondere des Vororts des Schweizerischen Handels- und Industrievereins, aber auch des Zentralverbandes Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen und des Schweizerischen Gewerbeverbandes, vor allem aber auch von der Führungskraft des Bundesrats, der Sachkenntnis der Verwaltung und der Einsicht des Parlaments, der Parteien und des Souveräns bzw. der Einigung auf einen breiten wirtschafts- und staatspolitischen Konsens.
Ein – wachsendes – Unbehagen ist in der Bevölkerung, quer durch die Parteien in allen Schichten bis in die hohen Kader aller Berufe allerdings feststellbar: es betrifft die Übernahme von allzu zahlreichen Verwaltungsratsmandaten durch Politiker und verschiedene Wirtschaftsführer. Man ist recht misstrauisch gegenüber sonst verdienten Leuten, die allzu unverblümt ans «grosse Geld» wollen. Nichts gegen die Übernahme von einwandfreien und angesehenen Verwaltungsratsmandaten; aber alles hat sein Mass und seinen Preis im allenfalls verminderten Ansehen und Vertrauen. Auch hier sollte der Grundsatz gelten: «in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister», ganz abgesehen davon, dass Mandate, die in seriöser Weise nicht zu bewältigen sind, den betreffenden Firmen wenig Nutzen einbringen. Dass einzelne Unternehmungszusammenschlüsse nach undurchsichtigen Übernahmen von Firmen den Bürger verunsichern und verärgern und Zweifel am System erwecken, sei nicht verschwiegen.
Produzent und Konsument
In der politischen Auseinandersetzung erfolgt immer wieder eine scharfe Trennung zwischen Produzent und Konsument, die ihren Niederschlag zunehmend auch in den Medien findet. Dabei werden einzelne Konsumentenvertreter als uneigennützige Lichtgestalten emporstilisiert. Tatsache aber ist, dass diese auch Interessen vertreten, namentlich diejenigen ihrer Organisation, von Angestellten oder Gewerkschaften. Manchmal vertreten sie auch ihre persönlichen als Politiker oder diejenigen der eigenen Karriere. Dasselbe gilt für Medienvertreter aller Schattierungen. All dies ist legitim. Interessen – solche der Produzenten und der Konsumenten – sollen in einer Gesellschaft im Rahmen der Marktwirtschaft und der rechtsstaatlichen Demokratie ausgetragen werden können. Es ist aber festzuhalten, dass der Arbeiter bzw. der Angestellte in der Maschinen- oder in der Lebensmittelindustrie in seiner Arbeit produktiv tätig ist: sie leisten einen aktiven Beitrag ans Sozialprodukt. Im privaten Haushalt wird jedoch ein Teil des Lohnes für den Lebensunterhalt «konsumiert». Eine Industrieunternehmung und ihre Mitarbeiter und auch ein gewerblicher Betrieb sind in der Produktion tätig; in der Beschaffung der Rohstoffe, der Ausgangsmaterialien, der Halbfabrikate, in der Versorgung mit Wasser und Energie sind diese Betriebe alle Konsumenten. Auch der Handel, die Banken, die Versicherungsgesellschaften, die Treuhänder sind produktiv tätig, wenn auch nicht in Bezug auf die Herstellung von Waren; sie beschaffen Waren, leiten diese sinnvoll in die verschiedenen Kanäle (Handel) oder bringen Dienstleistungen hervor, die ihrerseits der Produktion zugutekommen. Anderseits sind sie aber auch wieder Konsumenten von Produktionsmitteln, von Waren und Dienstleistungen. Einfach ausgedrückt kann man sagen, dass der Ingenieur, der Techniker und der Angestellte in der Fabrik «Produzenten» sind; in ihrem privaten Haushalt sind sie jedoch Konsumenten. Für den Bauer gilt das gleiche wie für den Gewerbler – mit einem gewichtigen Unterschied: In Bezug auf seine Produkte geniesst er eine staatliche Preis- und Absatzgarantie, indem man die Landwirtschaft aus dem Konnex der Marktwirtschaft genommen hat; in Bezug auf die Beschaffung der Arbeitskräfte, der Maschinen, der Chemikalien, des Kredites usw. bleibt der Bauer aber als Konsument in der Marktwirtschaft eingeflochten.
Die Vertretung von sogenannten Konsumenteninteressen ist legitim und durchaus erwünscht. Eine Überspitzung im Sinne einer unsachlichen Diskussion kann jedoch einen grotesken Eindruck hinterlassen; denn das wirtschaftliche Wohlergehen zahlreicher Mitglieder von Konsumentenorganisationen hängt von den Ergebnissen der Produktionsfront bzw. von der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft ab.
Parteien und Wirtschaftsverbände in der Konkordanzdemokratie
Politik wird nicht im luftleeren Raum betrieben. Sie ist ständige Auseinandersetzung um politische Ziele, deren Erreichung und Absicherung; Parteien und Gruppierungen streben nach Einfluss und Macht im Staat und in der Gesellschaft. Grenzen werden ihnen gesetzt durch die gegenseitige Konkurrenz, den Föderalismus, das System der Checks and Balances, den Rechtsstaat und die direkte Demokratie, die Wachsamkeit und das Misstrauen des Bürgers. Parteien vertreten nicht nur politische und ideologische Interessen, sondern zum Teil auch wirtschaftliche und wirtschaftspolitische, sicher keine uneigennützigen – besonders auch nicht die linken und grünen Gruppierungen, die von «bürgerlichem Machtkartell» und «Filz» sprechen. Jahrzehntelang haben die Parteien gegenüber den Wirtschaftsverbänden – namentlich den Spitzenverbänden in wirtschaftspolitischen Sachfragen (in Zeiten, wo Sachpolitik Trumpf war!) – an Gewicht eingebüsst. In den letzten Jahren hat sich die eine oder andere Partei durch Arbeitsgruppen und interne Kommissionen einen guten Sachverstand in der Wirtschaftspolitik zugelegt und ihn auch in der praktischen Politik und im Parlament umzusetzen gewusst – trotz gewisser zentrifugaler Kräfte. Hier wäre eine Steigerung der Effizienz durch Inanspruchnahme bester Köpfe aus Wirtschaft, Verwaltung und Universitäten durchaus möglich. Nach wie vor sind die Mittlerfunktion und die Führungsaufgabe der Parteien in den Parlamenten der drei Stufen Bund, Kantone und Gemeinden sowie als Träger des politischen Wettbewerbs und der Selektion der Kader in den Volksentscheidungen bei Wahlen und Abstimmungen vor allem in einer direkten Demokratie, unentbehrlich und durch keine anderen Organisationen und Institutionen wie Verbände, Kirchen, Wählerversammlungen und Massenmedien zu ersetzen.
In den letzten Jahren haben sich die Bindungen der Bürger an die historischen Parteien gelockert. Richard Reich hat in diesem Zusammenhang von einem Schrumpfen der sog. «Stammkundschaften» der Parteien gesprochen (1). Die sog. zentrifugalen Kräfte sind stärker geworden und damit die Erosion an den Rändern mit einer deutlichen Zunahme der «Wechselwähler». Hand in Hand damit – aber auch als Folge davon – ging eine Verstärkung des Einflusses der Medien auf die öffentliche Meinung und die Haltung der Politiker einher, die ihrerseits vermehrt die politische PR-Beratung in Anspruch nehmen. Es fehlt hier der Raum, um den Ursachen dieser Entwicklung nachzugehen. Lediglich sei darauf hingewiesen, dass der Wettbewerb der Parteien (um Wählerstimmen und in der Behandlung von Sachfragen) – wie Peter Graf Kielmansegg eingehend nachgewiesen hat – nicht primär auf Problembewältigung, sondern auf den Erwerb und die Behauptung von Regierungsmacht ausgerichtet ist. Man habe es mit der Vorherrschaft der Gegenwart zu tun. Politik, die unter den Imperativen des Wettbewerbs um Zustimmung stehe, tue sich überaus schwer, der Gegenwart Lasten im Interesse der Zukunft aufzuladen, während sie überaus bereit sei, der Zukunft Lasten im Interesse der Gegenwart aufzubürden (2).
Die Aufgabe der Parteien, aber auch der Spitzenverbände ist durch die wachsende Belastung der Konkordanzdemokratie nicht leichter geworden. Unter Konkordanzdemokratie ist Regierung durch Absprache mehrerer ideologisch oder weltanschaulich getrennter Gruppen oder Parteien zu verstehen, die sich auf gewisse Staatsziele einigermassen zu einigen vermögen. Die Konkordanzdemokratie hat angesichts der zentrifugalen Kräfte und des Meinungspluralismus öfters Mühe, zu einem nationalen Konsens zu finden. Auch sind Absprachen, die mit Filz nichts zu tun haben, Teilen des Volkes, welche durch die Parteien vertreten sind, nicht mehr durchsichtig. Dabei hat die Konkordanz mit der sog. Zauberformel schon früher den Spielraum für grundsätzliche Auseinandersetzungen eingeschränkt. Sie führte zu einer Verwischung zwischen Verantwortung und Opposition an der Spitze. Insbesondere die Sozialdemokraten – nicht ihre Bundesräte – aber von Fall zu Fall auch andere Parteien und Gruppierungen, stehen gegenwärtig mit dem einen Fuss in der Regierungsverantwortung, mit dem andern jedoch in der Opposition. Diese Haltung dürfte sich im Zusammenhang mit der Initiative «Schweiz ohne Armee» noch verstärken. Die proportionale Zusammensetzung des Bundesrats hatte aber ihre Auswirkungen auf die Verwaltung, womit zusehends Sachgeschäfte in das Kraftfeld der Politik geraten sind und unter dem Konkordanz Gedanken beurteilt werden.
Auch die Wirtschaftsverbände streben nach Einfluss. Sie vertreten ökonomische Interessen: die Branchenorganisationen im Rahmen der Spitzenverbände, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit diejenigen ihrer Mitglieder, die Regionalen Organisationen, wie Handelskammern, diejenigen der Wirtschaft ihrer Kantone und Regionen. Die Spitzenverbände, wie der Vorort oder der Zentralverband Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen, haben das Gesamtinteresse der ihnen angeschlossenen Kreise zu vertreten. Sie müssen immer, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden wollen, auch staatspolitische Überlegungen in ihre Entscheide einbeziehen. Besonders intensiv war die Mitwirkung des Vororts stets bei der Gestaltung der Aussenwirtschaftspolitik, die ohne ständige Kontakte des Bundes mit der Wirtschaft und ihren Organisationen bei der Vielfalt der Fragen kaum erfolgreich wäre. Die besondere Stärke war auch immer das Vorparlamentarische Verfahren und die Mitwirkung in nichtparlamentarischen Expertenkommissionen. Die Dichte der Beziehungen zwischen Bund und Wirtschaft bzw. zwischen der Verwaltung und den Spitzenverbänden dürfte während Jahrzehnten zuweilen enger gewesen sein als zwischen Bund und Parlament. Dies hat mit unlauterer Interessenvertretung oder Filz nichts zu tun. Durch diese Kontakte können sich manche Abteilungen der Bundesverwaltung ein sachkundiges Urteil über die Probleme der Wirtschaft bilden; anderseits identifizieren sich Vertreter der Wirtschaft öfters auch mit Fragen der Bundespolitik und behandeln die Probleme aus gesamtschweizerischer Optik nicht nur ökonomisch und rechtspolitisch, sondern auch staatspolitisch als Bürger dieses Landes. Dies hat diesen Exponenten ab und zu den Vorwurf einer allzu starken Regierungstreue eingetragen. Dass Grundsätze der Ethik und Moral beachtet werden, sollte selbstverständlich sein, auch wenn sie nicht ständig im Mund geführt werden.
Schliesslich ist zu beachten, dass die politische Stellung der Spitzenverbände – heute namentlich des Schweizerischen Gewerbeverbandes mit seinen zahlreichen mittelständischen Betrieben – auch auf ihrer referendumspolitischen Bedeutung beruht, wobei es ihnen zuweilen möglich ist, ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung, die Parteien und das Parlament zu aktivieren. Auch die Wirtschaftsverbände laufen Gefahr, dass die Verteidigung des Status quo, der Besitzstände, zur Hauptaufgabe wird; es gilt dies vor allem für die Branchenverbände, weniger für die Spitzenorganisationen, wo Gegenbeispiele, aber auch solche dafür ins Feld geführt werden können.
Die Leitung eines Spitzenverbandes muss stets von neuem versuchen, Anspruch, Geltung, und Wirklichkeit miteinander ins Lot zu bringen. Entscheidend sind die an der Spitze stehenden Persönlichkeiten, die Glaubwürdigkeit, Integrität, politisches Geschick, ordnungspolitische Standfestigkeit, Sachkenntnis und ständige Präsenz erbringen sollten. Andernfalls entsteht ein Abbröckelungsprozess nach innen und nach aussen. Die Wirtschaft würde mit mehreren Stimmen sprechen und sich in wichtigen Fragen kaum mehr richtig engagieren. Auf die Spitzenverbände wäre dann staatspolitisch weniger Verlass, und sie würden rasch an Ansehen und Einfluss verlieren.
«Auf dem Weg zur medienplebiszitären Demokratie» – Kurt Eichenberger (3) – müssen sich die Spitzenorganisationen, aber auch die Handelskammern und grösseren Branchenverbände, möglichst rasch auf den wachsenden Einfluss der Medien einstellen, um ihre Stellung in Zukunft sichern zu können. Dabei ist es mit der notwendigen oder wünschbaren Anstellung von Informationsbeauftragen und der Zusammenarbeit mit Werbe- oder «Imageberatern» oder gar mit der Inanspruchnahme von Ghostwritern allein nicht getan. Es geht im Übrigen nichts über die seit vielen Jahrzehnten bewährte Regel, dass verantwortliche Exponenten und Experten von Spitzenverbänden Ihre Reden und Aufsätze selber schreiben sollten. Damit bleibt man erstens glaubwürdig, stellt sich dar, wie man wirklich ist und nicht als Produkt eines PR- oder Werbeberaters, und zweitens ist man an vorderster Front selber aktiv und gestaltend dabei und verstärkt darüber hinaus die Motivation der Mitarbeiter.
In der heutigen schnelllebigen Zeit droht der Wirtschaft ein Theoriedefizit mit der Folge des Fehlens fester Standpunkte und Grundsätze. Neben der unerlässlichen täglichen praktischen Arbeit an konkreten Problemen sollte deshalb besonderes Gewicht auf die Grundlagenarbeit gelegt werden. Die sich Akzentuierende Personalisierung der Politik durch die Medien wird die Arbeit nicht erleichtern; denn sachliche Lösungen reifen in stiller, unentwegter Arbeit und weniger im Brennpunkt der Öffentlichkeit und unter dem Gesichtspunkt der «Medienwirksamkeit». Die seriöse Basisinformation seitens der Wirtschaft in dem Sinne, wie sie die «Wirtschaftsförderung» (4) praktiziert, muss in den Medien zweifellos auch über die Unternehmungen und Wirtschaftsverbände verstärkt werden. Besonders wichtig scheint, dass geistige Strömungen und politische Ideen rechtzeitig analysiert, in ihrem positiven und negativen Gehalt erfasst und, wenn nötig, kanalisiert und allenfalls erfolgreich gefördert oder widerlegt werden.
Wirtschafts- und staatspolitische Fragestellungen werden in der Öffentlichkeit – abgesehen von der «Neuen Zürcher Zeitung», den «Schweizer Monatsheften» und einigen renommierten Regionalblättern – weniger sorgfältig als früher behandelt. Man hat sich mehr den Personen und in manchmal aufgebauschter Weise den Firmenereignissen zugewandt. Hinzu kommt die Entwicklung der modernen Wirtschaftswissenschaften, deren Sprache von den Politikern kaum verstanden wird und die zur Lösung praktischer wirtschaftspolitischer Probleme unmittelbar weniger beitragen als früher. Dabei ist der Beizug des wissenschaftlichen Sachverstands durch die politischen Behörden, die Verwaltung, die Zentralbank und die Spitzenverbände eine dringende Notwendigkeit. All dies erschwert die Aufgabe der Parteien, aber auch der Spitzenverbände, und beeinträchtigt neben anderen Faktoren (zum Beispiel ungenügende finanzielle Dotierung der Parteisekretariate) die Gewinnung hochbegabter und engagierter Mitarbeiter für die interne und externe Parteiarbeit.
Die Stellung des Bundesrats und der Verwaltung
Beide Instanzen verfügen über eine starke Position. Natürlich haben sie politischen Strömungen und der Auffassung des Parlaments Rechnung zu tragen. Während meiner aktiven Tätigkeit im Vorort von 1961 bis 1987 habe ich zahlreiche und unterschiedliche Bundesräte im Amte erlebt. Manche waren in wirtschaftspolitischen Fragen stark engagiert und standen den langfristigen Interessen und Anliegen der Wirtschaft positiv gegenüber. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass sie am Gängelband der Wirtschaft gingen. Von einer Verfilzung konnte und kann keine Rede sein, wohl aber von notwendigen Kontakten zwischen Partnern. Bundesräte sind dem Land und dem Bundesstaat verpflichtet. Auch diejenigen, die aus der Wirtschaft kamen, waren dem Gesamtwohl verantwortlich und nicht der Wirtschaft und ihren Repräsentanten. Dabei hatten diese Bundesräte stets das Gedeihen und die Konkurrenzfähigkeit der Gesamtwirtschaft – so wie sie es sahen, eingebettet in die bundesstaatlichen Ziele – vor Augen. Ob ihre Beurteilung in allen Teilen richtig war, sei in diesem Zusammenhang dahingestellt.
Unser Land bedarf eines starken Staates und eines politischen Apparats (Regierung und Parlament) von gestaltender und nicht nur verwaltender Kraft, welcher allgemeine und stetige Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft setzen kann. «Je schwächer der Staat, desto höhere Forderungen werden an ihn gestellt», sagt zutreffend Felix Somary (5). Notwendig ist ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft und nicht ein hin- und herschwanken im Meinungsspektrum zwischen Staatsvergötterung und Staatsverketzerung.
ANMERKUNGEN:
*) Schweizer Monatshefte, Heft 6/1989.
- Richard Reich: Volksparteien in Schwierigkeiten, in: Schweizer Monatshefte April 1989, S. 260.
- Peter Graf Kielmansegg: Das Experiment der Freiheit; zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaates. Stuttgart 1988, S. 31.
- Kurt Eichenberger: Lagebeurteilungen. Staatspolitische Diagnose-Bedürfnisse und der Hang zu Verschleierungen, in: Schweizer Monatshefte Dezember 1985, S. 1039, insbesondere aber S. 1048 ff. Vgl. auch den Beitrag von Eichenberger: Beziehungen zwischen Massenmedien und Demokratie in: Staat und Gesellschaft: Festschrift Leo Schürmann, Freiburg 1987, S. 405 ff.
- Die «Wirtschaftsförderung» war unter anderem die PR-Organisation und (Abstimmungs-)Kampagnenorganisation der schweizerischen Wirtschaft und wurde nach dem Rücktritt von Dr. Gerhard Winterberger als Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Vororts der Schweizerischen Handels- und Industrievereins mit dem Vorort fusioniert und nennt sich nun Economiesuisse.
- Felix Somary; Krise und Zukunft der Demokratie. Wien und München o.J., S. 140.
NEUE ERKENNTNISSE ZUR WALSER-FRAGE
VON GERHARD WINTERBERGER (*)
Wer sind die Walser? – Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt sich die Forschung mit der Walser-Frage. Wer sind die Walser, woher kommen sie? Diese Frage wurde bereits im 15. Jahrhundert gestellt. Geschichtsschreiber und Chronisten wie der Glarner Ägidius Tschudi, der Zürcher Johannes Stumpf und die Bündner Johann Guler, Ulrich Campell und andere haben sich bereits damit befasst. Allerlei Theorien und Mutmassungen tauchten auf. Man sprach von versprengten Goten, Kimbern, Teutonen, Burgundern, Sarazenen, Langobarden, und in den Südtälern des Monte Rosa erhielt sich bis ins 20. Jahrhundert vereinzelt eine Sachsen- und eine Oberhasler-Theorie.
Im 20. Jahrhundert wurde die Forschung stark intensiviert. Man ging von den verschiedensten Wissenschaften an den Gegenstand heran: Historiker, Juristen, Volkskundler, Sprachforscher und Mediziner befassten sich mit dem faszinierenden Thema. Die Hauptfrage über die Herkunft der Walser ist heute beantwortet. Man ist den Problemen bis in feine Verästelungen nachgegangen. Und immer wieder erschienen grossartige Werke – namentlich auf dem Gebiet der Orts- und Flurnamenforschung. Besondere Verdienste um die Walser-Forschung kommen Paul Zinsli mit seinem Standardwerk «Walser Volkstum» und mit dem grossangelegten Buch «Südwalser Nemengut» Peter Liver, Hans Kreis, Rudolf Hotzenköcherle, Karl Meyer, Erhard Branger, Louis Carlen, Enrico Rizzi und Martin Bundi zu.
Von den Oberwallisern abstammende deutschsprachige Kolonisten
Als Walser bezeichnet man die von den Oberwallisern abstammenden deutschsprachigen Kolonisten in den Alpen. Es handelt sich um eine alemannische Bevölkerung. Ihre Herkunft lässt sich wie folgt erklären: Im 8., 9. und 10. Jahrhundert sind OBERHASLER aus dem Berner Oberland über die Grimsel ins obere Rhonetal, das Goms, eingezogen und haben dasselbe bevölkert. Da sich im Oberhasli seit altersher die Überlieferung erhalten hat, die Hasler stammten aus Friesland und Schweden, so wären die Walser demnach Alemannen mit friesischem und schwedischem Einschlag. Ich würde mich aber – was die Walser anbelangt – an die solide begründete Alemannenthese halten! Zweifellos sind aber auch Einwanderungen aus dem Frutigland, vor allem über die Gemmi, vielleicht den Lötschenpass und aus dem Simmental über den Rawyl ins Mittelwallis erfolgt. Die deutschsprachigen Siedler liessen sich auch im Lötschtental, im Binntal und in den Vispertälern nieder. Eine weitere Etappe der Alemannisierung des Wallis erfolgte im 12. Jahrhundert. Nur ein überaus zäher und harter Menschenschlag konnte sich in diesen Hochtälern und den späten Besiedlungsräumen behaupten. Da mussten neue Anbaumethoden, neue landwirtschaftliche Geräte und Anlagen (Bewässerung!) entwickelt werden.
Die Walser-Wanderungen
Im 13. Und 14. Jahrhundert fanden dann die sogenannten Walser-Wanderungen statt, dieser unermüdliche Zug der FREIEN WALSER aus dem Goms und aus den Seitentälern des Oberwallis nach neuen Horizonten. Es war dies eine kleine Völkerwanderung in den Alpen. Die Walser gründeten Kolonien in Uri (Urseren), im Piemont, in Graubünden, im Tessin, in diversen Gegenden des heutigen Kantons St.Gallen (im Rheintal in der sogenannten Freiherrschaft Sax beispielsweise**), in Voralberg, in Liechtenstein und im Tirol. Inmitten romanischen Gebiets entstanden deutsche Sprachinseln, inmitten der Herrschaftsbereiche mächtiger Feudalherren sind den Walser-Kolonisten freiheitsrechte, das sogenannte Walser-Recht, verliehen und zugesichert worden.
Als südliche Kolonien gelten Simplon, Zwischenbergen, das Pomatt (Val Formazza, südlich des Griespasses auf italienischem Boden), Bosco/Gurin, das Aostatal, Cressoney, Macugnaga und Vallorcine bei Chamonix. Im 13. Jahrhundert fanden Rückwanderungen von Lötschern (Bewohnern des Lötschentals) ins Berner Oberland statt. Sie besiedelten das hintere Lauterbrunnental mit Sefinen, Trachsellauenen, Sichellauenen, Amerten, Gimmelwald und Mürren sowie die Planalp über dem Brienzersee. Diese Lötscher im Lauterbrunnental (letzteres stand unter der Herrschaft des Klosters Interlaken) hatten aber nicht die gleiche herausragende Rechtsstellung wie die Walser im Pomatt und in Graubünden oder die Oberhasler.
Der Sonderfall Pomatt
Das Pomatt (südlich des Griespasses auf italienischem Gebiet gelegen), ans Goms und das Tessin angrenzend, ist eines der bedeutendsten und interessantesten Walser-Gebiete auf der Südseite der Alpen. Die Gemeinde umfasst neun ganzjährig bewohnte Fraktionen: Undrumstadlä, Stafuwald, Andermattu (Chiesa), Tuffwald, Waald (Valdo), Zumstääg (Ponte), Brendu, Gurfulu, Fruduwald. Die oberste Siedlung Moraschg liegt unter einem Stausee begraben. Das Pomatt wird heute in der Forschung als sogenannter ADLERHORST bezeichnet, «von dem aus die Walser Bosco/Gurin und Rätien erreichen und die höchstgelegenen Täler kolonisiert werden». Nach Enrico Rizzi ist das Pomatt «ein strategisch günstig gelegener Vorposten in den Zentralalpen, aber auch ein Ausgangspunkt weiterer walserischer Kolonisationstätigkeit». Der italienische Gewährsmann glaubt auch, dass die Pomatter an der Kolonisation von Urseren teilhatten. «Andermatt trägt denselben Namen wie der einstige Hauptort in Pomatt. Sogar die Reuss, früher Riss genannt, scheint den Namen zu wiederholen, den die Pomatter dem Toce (Tosa) gaben (einmal der schönste Wasserfall der Alpen): Riss.» Auf das Pomatt werden wir später noch zurückkommen.
Insbesondere Graubünden
Die zahlreichsten Walser-Siedlungen gibt es in Graubünden. Am bekanntesten sind die Rheinwaldgruppe und die Davosergruppe. Die erste Urkunde von Rheinwald stammt von 1273/74. Es handelt sich um einen Vertrag zwischen zwei Walsern aus der ennetbirgischen Walser-Kolonie Pomatt und dem Freiherrn Albert von Sax-Misox. Laut einer zwölf Jahre jüngeren Urkunde werden einer Gruppe von 20 Walsern, vornehmlich aus dem Pomatt (vier aus Simplen), die Ländereien im inneren Rheinwald zu Erbleihen gegeben. Vom Rheinwald aus breiteten sich die Walser weiter aus nach Safien und Tenna, Tschappina, ins Lugnez, nach Valendas und Versam, nach Mutten, ins Avers und den Oberhalbstein. Entgegen einer gängigen Auffassung wurde nach Martin Bundi das Hochtal Avers nicht vom Rheinwald her, sondern vom Süden, aus dem Herrschaftsbereich der Stadt Como, durch Walliser in Besitz genommen.
Der Davoser Vertrag zwischen Hugo von Werdenberg und seinen Neffen Johannes, Donat und Walter von Vaz mit einer Walser-Gruppe trägt das Datum vom 1. September 1289. Die Gründung der Davoser Kolonie müsste aber in den Beginn der achtziger Jahre fallen. Geografisch umfasst sie das heutige Gebiet der Landschaft Davos (mit Davos, Frauenkirch, Glaris Monstein und Sertig). Im Gegensatz zu Rheinwald lässt sich die Herkunft der Davosergruppe nicht genau lokalisieren. Dialektvergleiche weisen aber eindeutig auf die unteren Zehnten des Oberwallis – also auf die Gegend unterhalb Brigs – hin. Die Davoser Walser breiteten sich rasch über das Schanfigg, Churwalden und das Prättigau aus. Weitere Siedlungen von Davos aus erfolgten im Domleschg und im bündnerischen Rheintal, und schliesslich sind die Walser im Klosterstaat Disentis zu erwähnen. Die Einwanderung dürfte hier direkt aus dem Wallis, vornehmlich aber aus dem Urserental, erfolgt sein. Neuerdings hat Martin Bundi festgehalten, dass das Kloster Disentis als Schrittmacher der Walser-Siedlungen in Graubünden betrachtet werden kann. Eine überraschende Erkenntnis! Walser waren ferner ansässig im St. Galler Oberland (Calfeisen, Weisstannental, im Sarganserland, zum Beispiel auf Palfries), in Liechtenstein (1355 in Triesenberg), in Vorarlberg (Laterns 1313, Damüls 1313), im Grossen und Kleinen Walsertal, im oberen Lechtal und im Tirol (Galtür 1320). Man kann also von Nah- und Fernkolonisation sprechen. Sogenannte Nah- oder direkte Kolonien sind zum Beispiel das Pomatt, Macugnaga, Urseren und Tavetsch. Als Fernkolonien sind die Walser-Siedlungen im Rheinwald und in Davos und ihre weiteren Ableger und diejenigen im St. Galler Oberland, in Liechtenstein und Vorarlberg zu erwähnen.
Ursacher der Walser-Wanderungen
Als Ursachen der Walser-Wanderungen sind wirtschaftliche Gründe, die Überbevölkerung des Oberwallis, Klimaänderungen, die Wander- und Abenteuerlust der Walser und vor allem die Zusicherung einer bevorzugten Rechtsstellung durch die bündnerischen und piemontesischen Feudalherren zu erwähnen. Die Arbeiten namentlich von Paul Zinsli und Enrico Rizzi haben ergeben, dass beim Ausbau der Walser-Siedlungen die weltlichen und geistlichen Territorialherrschaften (Herren von Vaz, von Sax-Misox, Rhäzüns, Belmont, Kloster Disentis sowie die Feudalherren südlich der Alpen) die Hand im Spiel hatten. Die Walser waren herausragende, bewährte Krieger und ein überaus harter, zäher und fruchtbarer Menschenschlag, der in den «obersten wilden Höhinen» existieren konnte. Es ist nicht von ungefähr, dass während und in den ersten Jahrzehnten der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft die wichtigsten Alpenpässe im Siedlungsgebiet der freien Walser lagen. Neueste Forschungen in den Südtälern haben die Feststellung allerdings relativiert. So stellt Rizzi fest, dass die beschränkte Pflicht zur Hilfeleistung zu Fuss «mit Schilt und Speer» einzig als Gegenleistung für die grundherrliche Schutzpflicht zu verstehen sei. Aufgrund mittelalterlicher Quellen waren die Walser-Siedler keine Soldaten, sondern Bauern. Auch in Oberrätien dürften bei der Ansiedlung der Walser sogenannte militärische Überlegungen deutlich eine sekundäre Rolle gespielt haben. Die militärische Hilfeleistung war im Prinzip auf das eigene Siedlungsgebiet beschränkt.
Zutreffend schreibt der verdiente Historiker Hans Kreis, Verfasser der ersten Gesamtschau über die Walser: «Dem kleinen alemannischen Volksteil, der einst über die Grimsel ins Rhonetal einzog und sich hier dauernd niederliess, war eine geschichtliche Doppelaufgabe zugedacht. Dank seiner vitalen Kraft gelang es ihm in der Folge, in steter und zäher, sich über Jahrhunderte verteilender Durchdringung und Durchsetzung des alteingesessenen romanischen Volksverbands der obern Talhälfte seinen Charakter aufzuprägen und damit die Voraussetzung zu schaffen für die Entstehung eines vorwiegend deutschsprachigen Volksstaats.
Während dieser Prozess noch anhielt, stiegen Teile des Oberwalliser Völkleins im Süden und Osten über die Pässe des ihre Heimat begrenzenden Gebirgswalls und erschlossen, dabei den ganzen östlichen Zentralalpenraum in beinahe stürmischem Tempo durchmessend, überall in den Tälern, wo sie erschienen, die für die menschliche Niederlassung noch geeignete Hochzone einer intensiven Kultur. Wären diese Oberwalliser Bauern nicht ein überaus fruchtbarer Volksschlag gewesen, sie hätten diese Doppelleistung nie und nimmer vollbringen können.»
Das Walser-Recht
Nach Peter Liver ist das Walser-Recht ein Kolonistenrecht, wie es im Mittelalter, zum Teil auch in anderen Gebieten Europas, wagemutigen Siedlern zugestanden worden ist. Vergleichbar sind die deutsche Binnenkolonisation im Ostalpenraum und die deutsche Ostsiedlung in Böhmen, Mähren und Polen. Walser-Recht ist also nicht Walliser-Recht. Es entstand in den Kolonien. Die Walser hatten eine bevorzugte Rechtsstellung, verglichen mit einem Teil der umgebenden Bevölkerung; sie hatten Selbstverwaltung, eigene Ammann- und Richterwahl, freie Gerichtsgemeinde, verfügten über die persönliche Freiheit und die Freizügigkeit, das Recht der freien Erbleihe und hatten minime Abgaben zu leisten. Dafür mussten sie als Krieger dem Lehensherrn mit Schild und Speer dienen. Martin Bundi hat in diesem Zusammenhang nachgewiesen, dass vor einer walserischen Ansiedlung im Rodungsgebiet zum Teil bereits eine sesshafte Vorbevölkerung vorhanden war. Es gab übrigens auch die «freien Romane», doch sind sie viel weniger im Bewusstsein der Bevölkerung und der Gelehrten verankert als die «Walser Freiheit». Die Walser beeinflussten zweifellos auch die freiheitliche politische Entwicklung in Bünden und in Uri, die Gomser auch diejenige des Wallis, und zwar entscheidend.
Über bedeutenden jahrhundertealte Freiheitsrechte verfügten auch die Pomatter (Val Formazza auf italienischem Gebiet südlich des Griespasses). Erst 1816 bzw. 1837 wurden die alten freiheitlichen Einrichtungen abgeschafft. Die Leute von Pomatt waren jahrhundertelang bis ins 19. Jahrhundert mit den Gomsern und den Oberhaslern durch wirtschaftliche (Säumerverkehr über den Griespass und die Grimsel) und verwandtschaftliche Beziehungen verbunden. Erst mit der Eröffnung der Gotthardbahn im Jahr 1882 lockerten und lösten sich – vom Haslital aus betrachtet – die Bande mit den art- und stammverwandten ennetbirgischen Walsern im Pomatt. Eine Anzahl Oberhasler Namen ist walserischer Herkunft (aus dem Goms, dem Pomatt und weiterliegenden Siedlungen). Oberhasler sind aber auch später ins Pomatt gezogen wie mein Ururgrossvater Johann Winterberger, der in Andermatten (italienisch Chiesa genannt, weil die Kirche dort steht) begraben liegt. Ausserhalb der Eidgenossenschaft, in Vorarlberg und Tirol, teilten die dort ansässigen Walser das politische Schicksal mit den Bewohnern der betroffenen Länder. Das sogenannte Walser-Recht ging verlustig; die Walser-Freiheit wurde recht frühzeitig von den Fürsten aufgehoben.
Schlussbemerkungen
Zahlreiche Walser-Siedlungen sind als ehemalige Bergbauerngemeinden vom Aussterben und der Abwanderung bedroht. Einige sind bereits untergegangen. Im Piemont – sowohl im Pomatt als auch in den Südtälern des Monte Rosa – fehlt es an deutschsprachigen Zuwanderern aus der Schweiz. Diese zählebigen südlichen Aussenorte werden zuletzt vollends romanisiert werden. Andere Orte wie Davos, Arosa und Lech entwickelten sich zu weltbekannten Kurorten, wobei die ursprüngliche bodenständige Walser-Bevölkerung nur eine kleine Minderheit darstellen dürfte. Längst sind Walser in andere Gegenden und Berufe abgewandert, manche, wie die heutigen Zürcher Bodmer aus den Südkolonien oder die Berner Patrizier von Steiger aus dem Wallis, schon vor Jahrhunderten. Der Nimbus des Walsertums hat sich viele Jahrhunderte gehalten und wird auch weiterhin halten, weil er von den diversen Walser-Vereinigungen intensiv gepflegt wird. Weiterbestehen wird in Zukunft aber auch der faszinierende Forschungsgegenstand über Herkunft, Art, Rechtsstellung, Sprache, Siedlung und anthropologische Eigenheiten der Walser.
Was frühere Forscher erhellt hatten, ist zum grössten Teil gesichert. Neueste Erkenntnisse auf rechtshistorischem Gebiet sowie auf demjenigen der Flurnamen sind namentlich vom Mailänder Enrico Rizzi sowie von Paul Zinsli erschlossen worden. An Überraschungen mit neuesten Detailerkenntnissen wird es auch in Zukunft nicht fehlen!
(*) Nach einem am 11. November 1991 in einem traditionsreichen Zürcher Kreis von Wissenschaftern namens «Luna», zu deren Mitgliedern während vieler Jahre auch Gerhard Winterberger zählte, in Zürich gehaltenen Vortrag. Dieser wurde in der «Zürichsee-Zeitung» vom Dienstag, 31. Dezember 1991 publiziert.
(**) Anmerkung von Andreas K. Winterberger. Das Walser Geschlecht der Winterberger entstammt ursprünglich aus der Freiherrschaft Sax.